Dr. Manfred Strecker

Die Welt ist grausig. "Eat or be eaten – Iss oder werde gegessen." Das ist die Wahrheit des Daseins. "Die Welt ist nichts ohne Leben", wusste der profilierteste französische Feinschmecker, der Jurist Brillat-Savarin (1755-1826): "Was lebt, isst."

 

Davon wollen wir aber gar nichts mehr wissen. Man braucht dazu nur einen Supermarkt aufzusuchen. In den Fleischtheken glänzen uns – rosig aufpoliert – Steaks in zartweißem Fettrand, Koteletten mit schwungvollem Bein, geformter Schinken, Räuberspieße, dunkelrote Leberstücke, geschnetzelter Bacon oder  gepökelte Schweinsrippchen entgegen. Kaum etwas erinnert daran, dass diese Stücke von Tieren stammen. Ein Saukopf in der Metzgerauslage – das wäre ein widerlicher Anblick hierzulande.

 

Die Bielefelder Malerin Sabine Wenig isst gern, und sie reist gern in den Süden Europas. Dort herrscht weniger Scheu vor den Tatsachen des Lebens. Tauben hängen in vollem Federkleid gebündelt vom Haken, das Kaninchen, ganz Fell, ruht gebrochenen Auges in der Vitrine, Brassen und Barben mit stierem Blick scheinen mit starr-offenem Maul nach einem letzten Quäntchen Sauerstoff zu schnappen.

Was an solch einer Verkaufsauslage dem nordeuropäischen Gemüt von roher Gesittung erscheint, obwohl es sich im Urlaub, in urtümlichem Leben schwelgend, daran gern delektiert, bezeugt nicht nur eine Nähe zur Natur, sondern – was uns ebenso verloren ging – eine innige Beziehung zum Göttlichen im Lebenskreislauf. Der Schöpfer, so hatte es Brillat-Savarin noch gewusst, nötige uns zu essen. "Appetit ist die Einladung." Lässt uns ein Rebhuhn, auch wenn es noch ungerupft ist, nicht schon das Wasser im Mund zusammenlaufen? Und "Genuss", so schließt der Feinschmecker, eingedenk höherer Tafelvergnügen, seinen Gedanken von der göttlichen Nötigung zu essen: "Genuss ist die Belohnung."

 

Zwiespältige Gefühle beschleichen uns dennoch gegenüber der Kreatur, die uns – gleich ob Schlemmer oder geschmacksvergessener Fastfood-Esser – am Leben erhält. Auf die Ambivalenzen zwischen Fresslust und insgeheimer Schuld, die auch im stilvollen Tafeln nicht gänzlich stille werden, macht Sabine Wenig ihre Kunst. Eine neue, noch wachsende Werkgruppe stellt sie unter die genannte Sentenz: "Eat or be eaten".

 

Die bildnerischen Techniken, deren sich die 42-jährige Künstlerin dabei bedient, passen sich unserer emotionalen Gemengelage an. Die Bilder frönen unserer Gourmandise, sie geben aber auch Ausdruck unserem Schauer ob der kühl-sachlichen Beschreibung des kulinarischen Nutzens, den die Nutztiere, ihr Körper säuberlich in Fleischkategorien unterteilt, uns versprechen – das Kassler ins Sauerkraut, die Sülze in den Schwartemagen, das Kalbsbries an Kresse auf den Speiseteller im 3-Sterne-Restaurant.

 

Manches in kulinarischer Vorbereitung erkennen wir auf den Bildern Sabine Wenigs: die Fische in der Pfanne, die Gans auf dem Herd, das Kaninchen, bretonisch, bald wird es geschlachtet. Zwischen zwei Rindern auf saftvoller Weide reihen sich quer durchs Bild die gut geschärften Instrumente der Metzgers – Messer aller Größen und Schneiden, Hackebeil, Fleischhammer, Bratengabel.

 

Aber nichts ist hier bloße Malerei, nicht nur bei ihren zu der Werkgruppe gehörenden poetischen Figureninstallationen in kleinen Kartons von Spielzeuggröße, wo das Schwein, ein rosiges Plastikpüppchen, den Goldfisch küsst. Sabine Wenig arrangiert Brechungen in ihren Bildern, die zu ironischen Distanzierungen einladen. Eigene Fotografien von ihren Reisen in die südlichen Gefilde montiert sie ins Bild, klebt Auszüge aus Kochbüchern dazwischen – "Man nehme . . .!"  – oder kleine Streifen mit Wort und Satz, die sprachspielerisch so manchen Unsinn von dadaistischer Untergründigkeit verkünden. Ein Hengst dreht dem Bildbetrachter den Kopf zu und bleckt in einem ausgelassenen Pferdelachen die Zähne. "Da freut sich Fallada", lässt Sabine Wenig uns wissen, "dass er kein Schlachtross ist."

 

Das ist nicht nur Kunst, sondern auch eine Verbeugung. Mit ihrer eigenwilligen, lustvollen Spielart der Eat-Art erweist die Bielefelder Malerin der geschichtlich ältesten Kunstform ihre Reverenz. Noch einmal Brillat-Savarin: "Laufen wir die Reihe der Künste hinauf, so ist die Küche die älteste." Guten Appetit!

 

Dr. Manfred Strecker, Bielefeld
Leiter der Kultur- und Medienredaktion Neue Westfälische